Beides geht nicht!

“Ich bin aber im Recht!” ist ein Satz, den du bestimmt schon sehr häufig gehört hast, entweder von dir selbst oder von anderen. Unsere Gemüter erhitzen sich und wir steigern uns immer weiter in ein niederes Drama hinein. Dies bringt in der Regel großes emotionales Leiden mit sich. Eine authentische Verbindung ist zum anderen nicht mehr möglich. 

Wenn der eigene Standpunkt zum absolut einzig wirklichen Anspruch wird, verleugnen wir damit, dass unsere Perspektive nur eine von vielen, vielen, […], vielen möglichen Sichtweisen auf die Welt ist. Eine Geschichte unter unendlichen Geschichten auf dieser Erde. Wir verleugnen regelrecht die Tatsache, dass es etwas, das von unserer persönlichen Realität abweicht und was wir als “das ist aber falsch” oder “so ist es richtig” eingestuft haben, dennoch geben kann. Daran kann auch niemand etwas rütteln, denn es ist ja so offensichtlich. Je mehr Beweise wir dafür gesammelt haben, dass das Verhalten eines Anderen verdammt nochmal falsch ist (bitte entschuldigt meine Ausdrucksweise), desto schwieriger ist es, den damit verbunden absoluten Standpunkt los zu lassen. 

Besonders schwer fällt es meist dann, je mehr unserer Freunde und Bekannten uns in unserem Standpunkt bekräftigt. Wenn das landesgültige Gesetz das “Recht” unseres Anspruches untermauert (Ruhestörung, Nachbarschaftsangelegenheiten, Besitzverhältnisse, Arbeitsrecht…). Falls die Religion dies in ihren Schriften eindeutig “beweist”. (“Wie kann die Bibel, der Koran, der … denn bitteschön lügen?”). Einfach immer dann, wenn unser Standpunkt weitläufig in der Bevölkerung vertreten ist. 

 

Für’s Leben gibt es kein Drehbuch

Du kannst Recht haben oder in Beziehung sein.Doch unser Leben verläuft nicht nach Drehbuch und schon gar nicht nach unserem eigenen. Wenn wir dann auf Menschen treffen, die uns partout nicht verstehen wollen, triggert uns das an. Unsere festgefahrene Haltung sorgt dann dafür, dass wir unzufrieden, frustriert oder vielleicht sogar richtig unglücklich werden.

Wir alle tragen in uns Meinungen, Sichtweisen, Haltungen, Überzeugungen und Annahmen, die für uns so selbstverständlich sind, dass wir nicht im Traum darauf kämen, diese jemals in Frage zu stellen. Sie sind ein fester Bestandteil unserer Box* (unseres Glaubenssystems) – wir nehmen diese gar nicht bewusst wahr. 

* Wie eine Box tickt, kannst du in meinen Blogartikel EXPAND THE BOX – Unsere Verteidigungsstrategien überwinden nachlesen. Alle Infos und Termine zum Expand The Box Training findest du auf der Webseite von uns Possibility Management Trainern.

 

Unsere Haltung ist Teil unserer Box

Es geht nicht darum, gar keine Absolutheitsansprüche mehr zu haben. Wir alle haben sie – sie sind ein Teil unserer Box! Sie helfen uns, unsere Realität zu kreieren und helfen uns, uns in dieser Welt zu bewegen. Denn unsere Box ist wie ein gigantischer Filter zur Realität. Stell dir einmal vor, du müsstest jeden Morgen neu überlegen, ob es jetzt richtig oder falsch ist, jemanden die Hand zu geben, auf der rechten Straßenseite zu fahren, “Bitte” und “Danke” zu sagen. 

Dank unserer individuellen Box-Struktur erwarten wir auch von anderen, dass sie sich beispielsweise an spezifische oder “allgemeingültige” Vereinbarungen halten. Tun sie es nicht, sind wir enttäuscht.* Das hat dann vielleicht zur Folge, dass wir den anderen schneiden, ihn herablassend behandeln, Informationen vorenthalten oder Konsequenzen androhen. Dies spürt auch der andere. Er fängt ebenfalls an, sich zu verteidigen, meidet weiteren Kontakt oder sabotiert (unbewusst) unsere Zusammenarbeit. Die Fronten verhärten sich immer weiter. Ein Teufelskreislauf des niederen Dramas. 

* Mehr Informationen dazu, wie du mit Enttäuschungen umgehen und deinen Groll auflösen kannst, findest du im Blogartikel Enttäuschungen: Was wir daraus lernen können.

 

Unsere Haltung prüfen

Berührbar zu sein ist Pionierarbeit. Mutig. Wahrhaftig. Heilend.

Warum ist es so wichtig, unsere Haltung zu überprüfen?  Wenn wir auf unser Recht beharren, drehen wir uns mit unseren Gedanken und Gefühlen immer wieder im Kreis. Wir steigern uns so in die Interpretationen unserer Gefühle hinein und erzeugen damit nach und nach eine Intensität, die in keinem angemessenen Verhältnis zur eigentlichen Situation steht. Innerlich bauen wir eine emotionale Ladung auf, die wir über lange Zeit mit uns herumschleppen. Immer wenn wir dem anderen dann über den Weg laufen, würden wir ihm am liebsten das ganze Paket vor die Füße kippen. 

Wir können uns dann als Opfer unserer Umstände fühlen, können uns im Jammern und Grollen verbarrikadieren. Wir können aber auch mit der Haudrauf-Methode in einen Krieg um den Heiligen Gral ziehen. (Ich habe früher eindeutig zu viele Indiana Jones Filme gesehen.) In beiden Fällen ist keine Nähe und Verbindung möglich. 

Es gibt im Possibility Management einen Satz, der mir besonders bei Streitigkeiten in den Kopf schießt: “Du kannst Recht haben, oder in Beziehung sein.” Dieser Satz hilft mir oft (ich sage nicht “immer”), meinen Absolutheitsanspruch loszulassen, um mich auf das einzustellen und einzulassen, was JETZT ist. Sonst laufe ich Gefahr, dass ich meine Beziehungsräume mit emotionalen Ladungen vergiften.

 

Raus aus dem niederen Drama

Um aus dem niederen Drama wieder herauszukommen, müssen wir eine neue Haltung entwickeln: Weg vom niederen Drama, dorthin, wo sich außergewöhnliche Räume eröffnen. Um diese neuen Räume zu betreten, in denen “Miteinander”, “Gewinnen geschieht”, “Kreativität” und “Verbindung” möglich sind, ist es wichtig, uns mit unseren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen und unsere Gefühle verantwortungsvoll zu fühlen und einzusetzen

Das bedeutet: üben, üben, üben. Wir alle sind Menschen, die ständig  emotional getriggert werden (schöne Grüße an meine und deine Amygdala) und schnell in alte Muster verfallen. 

Und jetzt? Wie geht das? Wie kann ich neue Muster gestalten und einüben?   

Wie dir die Rückverbindung zu deinen Gefühlskräften und das Loslassen einer nicht mehr dienlichen Haltung gelingen kann, kannst du in folgenden Experimenten erleben, die du in deinen Alltag einbinden kannst. 

 

Experiment 1: Nicht nur eine Geschichte erzählen

Wenn du schon ein länger meine Blogartikel liest, ist dir sicherlich auch der Artikel mit dem provokanten Titel “Warum du deinen Gefühlen nicht trauen solltest” aufgefallen. Zu jeder Situation erzählen wir uns unbewusst eine Geschichte, die wiederum ein Gefühl in uns erzeugt. Ziemlich häufig ist es die Geschichte, dass etwas nicht richtig ist und wir werden darüber dementsprechend wütend (oder traurig oder ängstlich). Dieses Muster können wir durchbrechen, indem wir nicht nur eine Version erzählen, sondern alle unsere vier Grundgefühle beleuchten. Was an der Situation macht mich wütend, ängstlich, traurig oder froh? 

Dieses Experiment kannst du erst für dich zu Hause ausprobieren, wenn möglich mit einer Situation, die dich nicht all zu sehr triggert. Schreibe alle Gefühle zu dieser Situation auf, oder spiele sie in Gedanken durch. Ich fühle mich …, weil…. Mache dies mit allen vier Gefühlen. Oft gibt es mehr als nur ein “weil” pro Gefühl. Eine Anleitung hierfür findest du im oben genannten Blogartikel

Sobald dir diese Übung immer leichter fällt, kannst du deine neuen Fähigkeiten auch in reale Situationen einbringen. Diese Seite von dir zu zeigen, macht dich berührbar und kann eine tiefere Nähe kreieren.

 

Experiment 2: Emotionen erkennen und verantwortlich damit umgehen

Wie wir schon gesehen haben ist es nicht zielführend, den anderen als emotionalen Mülleimer zu nutzen, nur weil er derjenige war, der einen tief in uns verankerten Trigger ausgelöst hat. 

Eine wichtige Fähigkeit ist erst einmal zu erkennen, dass gerade eine emotionale Aktivierung erfolgt ist. (Meist ist da das Kind schon in den Brunnen gefallen, aber lieber spät als nie die eigenen Muster erkennen.) Verfalle dann nicht der Verlockung, einfach so zu tun, als wäre alles in Ordnung, der andere merkt es meist sowieso, dass gerade etwas komisch läuft. Halte inne! Mir hilft dann meist ein kurzer Rückzug in mein Innerstes und ich bitte den anderen, mir einen kurzen Moment zu geben, damit ich mich neu sortieren kann. Oder wenn es gar zu heftig ist, hilft es auch, mich kurz räumlich raus zu ziehen. (Sag dabei, was du tust und rausche nicht einfach von dannen.) 

Nimm ganz bewusst wahr, was dabei bei dir hoch kommt. Wo genau wallt die Emotion hoch? Was fühlst du dabei? Und dann kannst du wirklich zu dieser Emotion sprechen: “Danke, ich habe dich gesehen und werde mich später darum kümmern.” Mit dieser Absicht parkst du sozusagen die Emotion und suchst dir dann zu einem späteren Zeitpunkt einen sicheren Raum, in dem du diese alte Emotion anschauen kannst. 

Bewusstes Jammern

Eine Möglichkeit ist die bewusste Entladung, indem du einen Freund oder Freundin bittest, dir einfach nur wertefrei zuzuhören. Er oder sie muss nichts tun, als einen sicheren Zuhörerraum zu halten, mit dem Versprechen, dass alles was gesagt wurde, nicht beurteilt oder ausdiskutiert wird. Setze dir für dieses Auskotzen / bewusste Jammern eine bestimmte Zeit (10 min) und dann lege los. Das erstaunliche daran ist: bereits in kürzester Zeit sortieren wir uns selbst. Mir geht es sogar oft so, dass ich die 10 Minuten dann gar nicht voll brauche. 

Coaching / Prozessarbeit

Emotionen sind unvollendete Gefühle aus der Vergangenheit. Bei bestimmten, immer wieder auftretenden Triggern ist es außerdem sehr sinnvoll, dir diese in einem Gefühlscoaching anzuschauen und zu heilen (Kind-Emotion), zurückzugeben (Eltern-Emotion) oder dir deinen destruktiven Mustern bewusst zu werden und den eigenen Gremlin an die Leine zu nehmen. 

 

Experiment 3: Die Wertschätzer-Methode

Vor zwei Jahren habe ich Stephan Josef Dick kennengelernt und er ist mir ein lieber Freund geworden. Zusammen mit seiner Frau Iris und mit Gertraud Wegst hat er die Wertschätzer-Methode entwickelt, damit in den Arbeitsabläufen in Unternehmen wieder Flow entstehen kann. Die sechs zentralen Punkte in dieser Methode sind: 1) eigene Automatismen / Trigger erkennen (hier geht es wirklich darum zu erkennen, wo wir in ein Überlebensmechanismus verfallen – wo unsere Amygdala aktiv wird), 2) das Recht haben loslassen, 3) wohlwollend sein, 4) den Wachstumsschritt finden, 5) gewünschte Zukunft kreieren und 6) freilassend handeln. 

Diese Methode finde ich sehr genial. Sie hilft die eigene Haltung zu überdenken (niederes Drama) und dabei in eine neue Haltung (hohes Drama) zu wechseln, ohne in einen Überlebensmechanismus getriggert zu werden. Deswegen möchte ich sie dir hier als Experiment vorschlagen. 

Wie die Wertschätzer-Methode genau funktioniert, erklärt Stephan Josef ausführlich in seinem TEDxTalk. Die Präsentation des Talks sowie eine Kurzanleitung findest du auf seiner Webseite. Und wenn du noch mehr dazu lesen möchtest, dann empfehle ich dir auf jeden Fall das Buch der drei: Wertschätzung – Wie Flow entsteht und die Zahlen stimmen: Impulse und Praktiken zur Gestaltung gelingender Zusammenarbeit. 

Solltest du Fragen zu den Experimenten haben, freue ich mich über einen Anruf oder eine Mail von dir. Gerne kannst du mir auch einen Kommentar unter dem Artikel da lassen. 

Herzensgrüße
Lisa