Bereits in jungen Jahren ist  vielen von uns beigebracht geworden, Gefühle – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht zu zeigen. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“, „Das geht niemanden etwas an.“, „Nur die Harten kommen in den Garten“, usw. In unserer modernen Kultur haben Kollegen, Eltern und Freunde verletzende Worte, wie Angsthase, Spaßbremse, Feigling, Heulsuse oder Lusche für uns übrig, wenn wir Gefühle zeigen. Immer öfter höre ich in letzter Zeit auch ein „Mimimiiiii“ in einer sehr hohen Stimmlage, wenn jemand zeigen will, dass er kein Mitgefühl mit seinem Gesprächspartner hat. Als Schüler oder Berufstätiger scheint es uns sogar überlebenswichtig unsere Gefühle kategorisch abzulehnen oder zu verstecken.

Unsere unausgedrückten Gefühle bringen uns sogar dazu, entsprechenden Schmerz um uns herum zu verursachen. Unsere kollektive Gefühlslosigkeit erlaubt es uns, unseren Planeten immer weiter zu zerstören. So begehen wir nach wie vor habgierigen Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen, dulden wirtschaftliche Ungerechtigkeit, unterstützten die Kriegsmaschinerie und vergiften Luft, Wasser und Erde. Ja, auch du und ich – selbst wenn viele von uns inzwischen versuchen ökologischere Pfade einzuschlagen.

Wir alle finden Mittel und Wege, unseren Schmerz zu betäuben und zu begraben.

 

Die Überlebensstrategie: nicht fühlen

Um nicht fühlen zu müssen, haben wir uns verschiedene Strategien zu Recht gelegt. Vielleicht kennst du das auch, dass du in bestimmten Situationen dazu übergehst, Nägel zu kauen, Haare auszuzupfen oder den Kühlschrank zu öffnen und dich mit Essen voll zu stopfen. Auch bei körperlichen Symptomen, wie Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen und bei Krankheiten, wie Depressionen, können wir vermuten, dass diese durch unterdrückte Gefühle verursacht werden.

Oft verstecken wir unsere Gefühle hinter logischen Argumenten. Wir rationalisieren unsere Gefühlswelt teilweise einfach weg. Manche von uns stürzen sich auch in die Arbeit, um sich nicht mit den eigenen Gefühlen auseinander setzen zu müssen. Wir buckeln in einem unbefriedigenden Job, um uns dann noch mehr Sachen kaufen zu können, die wir in Wirklichkeit gar nicht brauchen. Wie oft ertappst du dich selbst beim Frust-Shopping?

Mich wundert es gar nicht, dass vielen ihr Herz weh tut. Wir haben verlernt es zu nutzen. Wir führen ein Leben, wie es die Gesellschaft von uns erwartet. Unsere Gefühllosigkeit vermittelt uns eine scheinbare Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Wenn wir nicht mit unseren echten, sich ständig ändernden Herzensgefühlen in Kontakt sind, dann schlagen wir auch nicht unvorhersehbare Wege ein. Unser Leben fühlt sich, durch die ständigen Wiederholungen, stabil und somit sicher an.

 

Die Taubheitsschwelle

Wir haben uns eine hohe Taubheitsschwelle zugelegt, um Empfindungen, die wir sonst als schmerzhaft wahrnehmen würden, nicht mehr fühlen zu müssen. Wir schneiden uns also von unseren Gefühlen ab, damit wir nicht überwältigt werden, von dem Ansturm der Wahrnehmungen, die tagtäglich auf uns einprasseln. Durch eine hohe Taubheitsschwelle begünstigen wir auch den Umstand, dass wir die Konsequenzen unseres Verhaltens nicht fühlen müssen.

Denk beispielsweise an einen Angestellten, von dem plötzlich in seinem Beruf erwartet wird, dass er Zahlen manipuliert. Aus Angst, seinen Job zu verlieren, lässt er sich auf dieses Spiel ein. Damit der Schmerz darüber ihn nicht übermannt, schraubt er sehr schnell seine eigene Taubheitsschwelle nach oben. (Würde er sich erlauben, seine wahren Gefühle wahrzunehmen, würde er wahrscheinlich sehr schnell seinen Beruf wechseln oder mit seinem Chef Klartext reden.) Doch diese Gefühllosigkeit gegenüber den Konsequenzen seines Handelns verhindern nicht die Konsequenzen an sich.[1]

Welche Techniken hast du entwickelt, um deine Taubheitsschwelle hoch zu halten? Übermäßiger Fernseh- und Radiokonsum, ungeprüft den Aussagen von Regierungsbeamten und den Informationen in den Nachrichten glauben, dich selbst überarbeiten, Frust-Essen und Frust-Shopping oder einer ungeliebten Arbeit nachgehen?

 

Ins Fühlen kommen

Du könntest Freunde bitten, dir Feedback zu geben, um deine unbewussten Strategien aufzudecken. Du kannst deine Freunde auch bitten, dir zu sagen, wie hoch du deine Taubheitsschwelle hältst und wie unterschiedlich hoch sie in einzelnen Bereichen deines Lebens ist. Beobachte dich auch selbst über einen längeren Zeitraum, bis du wiederholende Muster erkennst. Und schreibe dir deine Strategien auf, die du anwendest, um nicht fühlen zu müssen. Unsere Box (vgl. Blog-Artikel „Mehr Leben wagen – raus aus der Komfortzone“) ist ein Meister darin, solche Erkenntnisse einfach auszublenden oder schnell wieder zu vergessen.

Was ist der Preis, den du zahlen musst, wenn du deine Taubheitsschwelle herabsetzt? Die Schwelle herabzusetzen erfordert harte Arbeit. Du wirst jeden Millimeter schmerzhaft spüren, wenn sie nach unten geht. Du bist sensibler gegenüber deinen eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer. Die Konsequenzen deines Handelns werden dir schmerzhaft bewusst. Größere Bewusstheit bringt höhere Verantwortung mit sich. Schluss mit Ausreden, Vertagen, Verschieben, Tot stellen – Ade liebe Sicherheit. Ein hoher Preis, oder nicht?

Und welchen Gewinn kannst du daraus ziehen, wieder ins Fühlen zu kommen? Indem du dich traust, echte Gefühle in deinem Leben zuzulassen, gewinnst du Wertschätzung gegenüber dir selbst und anderen. Wir Menschen können präsent und in echtem Kontakt miteinander sein. Auch helfen uns unsere Gefühle, klare Grenzen zu setzen, um das zu bitten, was wir benötigen und sie verleihen uns Klarheit neue Möglichkeiten zu kreieren. Du lernst, deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn wir uns bewusst dafür entscheiden, Verantwortung für uns und unsere Gefühle zu übernehmen, dann ist dies der erste Schritt in eine neue Kultur mit neuen Handlungen und Ergebnissen. (Du kannst dich jeden Moment neu dazu entscheiden.)

Bleib dran: Und sei liebevoll mit dir selbst

Solch eine Veränderung passiert nicht von heute auf morgen. Sei geduldig und liebevoll mit dir selbst. Wir haben über den Lauf der Jahre viele Muster, Gewohnheiten, Glaubessätze und Annahmen entwickelt, die uns das „Überleben“ gesichert haben. Wenn wir als Kind Autoritätspersonen (Eltern, Lehrern oder generell Erwachsenen) widersprochen hätten / haben, so kann es sein, dass wir dafür bestraft worden wären, oder im schlimmsten Fall sogar daran zerbrochen wären. Unsere Muster, die uns damals „das Leben“ gerettet haben, behindern uns jetzt am Vorwärtskommen.

Der erste Schritt, wieder ins Fühlen zu kommen, ist der schwierigste. Es geht um das Erkennen – das Erkennen unserer eigenen Taubheitsschwelle, unserer eigenen Inkompetenz gegenüber unseren Gefühlen. Danach wird es leichter: wenn wir uns erst einmal unserer Inkompetenz bewusst sind, können wir daran arbeiten und sie in eine bewusste Kompetenz entwickeln, bis es uns irgendwann in Fleisch und Blut übergeht.

Bewusstes fühlenLerne in der Theorie etwas über Gefühle. Hierfür empfehle ich dir aus voller Überzeugung das Buch „Die Kraft des bewussten Fühlens“ von Clinton Callahan. Daraus erfährst du wichtige Informationen, um näher an deiner eigenen Wahrheit zu leben. Dieser Artikel war bereits eine sehr knappe Einführung in Clintons Buch.

Und dann geh in die Praxis über. Ich biete mit befreundeten Kollegen Trainings an, um in das bewusste Fühlen zu kommen. Einer dieser Workshops heißt „Lebendig fühlen“.  Zusätzlich empfehle ich dir den Besuch eines „Expand the Box“ Trainings,  um alte Denk- und Verhaltensmuster zu transformieren.

Wir freuen uns auf dich!

Alles Liebe,
Lisa

 

Fußnote: 

[1] Clinton Callahan hat in seinem Buch „Die Kraft des bewussten Fühlens“ ein passendes Bild dazu gebracht: „Fragen Sie den Vogel Strauß, ob es ihn schützt, wenn er den Kopf in den Sand steckt.“